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Er holt die Welt in unsere Schulzimmer

«Die Mentalität eines Landes widerspiegelt sich in seinen Karten»: Kartograf Lorenz Hurni. Foto: Samuel Schalch

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Sein Büro im Zentrum des Hönggerberg-Campus der ETH ist voll mit historischen Karten, Atlanten und Globen. Hier ist das Nervenzentrum des Schweizer Schulatlas, das Reich des Lorenz Hurni, dessen Werk sozusagen das Weltbild ganzer Generationen von Schweizer Schülern formt. Hurni ist Chefredaktor des Atlas – allein dieser Name zeugt von seiner universalen Bedeutung.

Seit 1910 gibt es dieses Lehrmittel. Lorenz Hurni ist in den langen 107 Jahren seines Bestehens aber erst der vierte Chefredaktor des Werkes. Seine Vorgänger – August Aeppli, Eduard Imhof und Ernst Spiess – waren alle jahrzehntelang im Amt und sind legendär mit dem Werk verbunden. Vor zwei Wochen hat Hurni zusammen mit der auftraggebenden Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren die Neuauflage des Schweizer Weltatlas präsentiert.

Schweizer Karten «sind präzise, fast pingelig genau, sauber aufgeräumt»: Die Stadt Zürich im Schweizer Weltatlas.

Der Charakter der Schulatlanten hat sich in den letzten Jahrzehnten stetig gewandelt. Weg von rein topografischen Karten, die im wesentlichen Ortschaften, Flüsse, Berge und Flure zeigten, hin zu immer mehr thematischen Karten. Die Entwicklung kulminiert in der neusten Ausgabe, in welcher erstmals die Vorgaben des Lehrplans 21 berücksichtigt wurden. Darin basieren die Lernziele nicht mehr primär auf Wissen, sondern werden als Kompetenzen festgehalten, die die Schüler erreichen sollten. Für die dritte Sek heisst es zum Beispiel optimistisch, die «Schülerinnen und Schüler können die Nutzungsmöglichkeiten von Lebensräumen erklären und einschätzen».

Hurni begrüsst den Paradigmenwechsel, für die Kartenmacher sei er eine Bereicherung. «Das neue pädagogische Konzept schärft das Bewusstsein für die Fragestellungen, die man aus Karten herauslesen kann.» Der Anteil ausländischer Arbeitskräfte in den verschiedenen Regionen der Schweiz, die ökologischen und ökonomischen Auswirkungen des 3-Schluchten-Dammes in China oder der räumliche Zusammenhang zwischen Überschwemmungen und Arsenbelastung in Bangladesh – Karten müssen heute Geschichten erzählen.

Diplomatisches Minenfeld

Vielleicht ist sich der 54-jährige ETH-Kartograf der Verantwortung, die auf seinen Schultern lastet, gar nicht so richtig bewusst. Er beeilt sich, zu betonen, dass dies keine «Einmannshow» sei. Zuletzt verantwortet aber Chefredaktor Lorenz Hurni, was aufgenommen und weggelassen wird – und da bewegt er sich nicht selten auf einem politischen Minenfeld. Zum Beispiel entbrannte um die Bezeichnung des zwischen Japan und Korea liegenden Meeres ein Streit, in dem beide Botschaften bei Hurni intervenierten. Während dieses Gewässer für Japan eindeutig das «Japanische Meer» ist, sprechen die Südkoreaner vom «Ostmeer», die Nordkoreaner sogar vom «koreanischen Ostmeer». Schliesslich hat sich Hurni für einen Kompromiss entschieden: Das umstrittene Gewässer heisst nun im neuen Schulatlas «Japanisches Meer oder (koreanisches) Ostmeer». «Ich habe den Botschaften dann einen höflichen Brief geschrieben und unsere Version so begründet, dass wir die Welt ausgewogen darstellen wollen, damit das Thema auch von den Schülern diskutiert werden kann», erinnert sich Kartendiplomat Hurni. Im Streitfall hält sich Hurni an die Vorgaben des Eidgenössischen Aussendepartements.

«Karten sind für mich die faszinierendste Art, die Welt zu entdecken.»

ETH-Kartograf Lorenz Hurni

Hurni wurde schon als Schüler vom Kartenvirus gepackt. Der Auslöser war der damalige Schulatlas von Eduard Imhof. Bald begann er selber Karten zu zeichnen, zuerst als Skizzen im Indianerspiel, dann kartierte er in einem Waldstück bei Biel über 300 Findlinge und gewann mit dieser Arbeit eine Auszeichnung beim Jungforscherwettbewerb «Schweizer Jugend forscht». «Karten sind für mich die faszinierendste Art, die Welt zu entdecken», sagt Hurni. «Nicht nur auf dem Papier, auch in der Landschaft.» Wenn er unterwegs ist – früher lief er Orientierungslauf, heute ist Bergwandern sein Hobby –, hat er immer eine Karte dabei, und dann überprüft er, ob das Kartenbild der Realität entspricht. Findet er einen Fehler, meldet er ihn natürlich sofort der zuständigen Stelle.

Schweizer Kartentradition

«Schon früh interessierte mich aber auch die technische Herausforderung, wie man so eine Karte herstellt», erinnert sich Hurni. Als Schüler half er in den Sommerferien einem Geometer bei der Vermessung der Landschaft. Er studierte an der ETH Geomatikingenieur, erforschte in seiner Dissertation als einer der Ersten die neuen digitalen Methoden der Kartenherstellung und wurde Projektleiter im Bundesamt für Landestopografie, wo er zuständig war für die Umstellung der Schweizer Landeskarten auf computergestützte Produktion. 1996 kehrte er zurück an die ETH als Professor am Institut für Kartografie und Geoinformation, deren Produkte er in die digitale und interaktive Welt geführt hat, seit 2009 als Chefredaktor des Schweizer Weltatlas.

«Sie wissen gar nicht, wie viele Kartenfans es da draussen gibt», sagt Hurni und lächelt. Und es sind leidenschaftliche Fans, welche alle Änderungen kritisch verfolgen. Als zum Beispiel auf den 1:25 000er-Landeskarten die Schrift in eine serifenlose Frutiger-Schrift geändert wurde, hatte das einen Entrüstungssturm zur Folge. «Ich bin nicht grundsätzlich gegen eine serifenlose Schrift, aber man kann darüber streiten», sagt Hurni diplomatisch, der in einer vorbereitenden Kommission mitgearbeitet hat. Im Schulatlas entschied er sich für eine etwas feinere Univers-Schrift, weil diese verschiedene Schriftschnitte und Sonderzeichen umfasst.

«Ich schaue eigentlich jede Karte gerne an.»

Lorenz Hurni

Mit seiner Arbeit schreibt Hurni eine Kartentradition fort, auf die die Schweiz stolz ist. Für Hurni widerspiegeln die Karten eines Landes auch ein wenig die vorherrschende Mentalität. «Unsere sind präzise, fast pingelig genau, sauber aufgeräumt», sagt Hurni. Die plastischen Reliefdarstellungen und der grosse Detailaufwand in der Ausgestaltung der Karten seien weltweit einmalig. Andere Länder würden etwas «salopper» mit den Details umgehen. «Die französischen Karten etwa gehen in ihrer Detailgestaltung viel weniger weit, dafür sind Dinge eingezeichnet, die den Franzosen eben wichtig sind, zum Beispiel die Fromageries, Käsereien.» Die Frage nach seiner Lieblingskarte beantwortet der Kartograf wie ein guter Vater, der nach seinem Lieblingssohn gefragt wird – nämlich gar nicht. «Ich schaue eigentlich jede Karte gerne an.»

Haben gedruckte Atlanten in Zeiten von Google Maps und automatischer Navigationshilfen überhaupt noch eine Zukunft? «Ich hoffe sehr», sagt Hurni. «Die Übersicht, die gedruckte Atlanten bieten, ist einmalig.» Er findet es schade, wenn sich die Leute von den Navigationshilfen einfach von Punkt A nach Punkt B führen lassen und es ihnen egal ist, was dazwischen ist. «Google behauptet zwar, dass es die Welt zeigt, wie sie ist», bemängelt Hurni. «Aber wenn man auf diesen Karten nichts sieht, kann man einfach nicht sicher sein, ob da auch wirklich nichts ist.»